Illustration: Maria Katelieva

Illustration: Maria Katelieva

Die ersten Schneeflocken des Jahres landen sanft. Ich lehne meine Stirn an die kühle Fensterscheibe und betrachte die Eiskristalle, die die Kälte wie kleine Kunstwerke auf das Glas gezaubert hat. Die Scheibe wirft mein Spiegelbild auf mich zurück. Ich sehe mich und erkenne so vieles von ihr. Meine erste große Liebe galt einer feinfühligen Künstlerseele. Ihre Lieblingsmotive fand sie in der freien Natur, die sie von ganzem Herzen liebte. Vor allem Bäume, Vögel oder Schmetterlinge fing sie mit Bleistift, Tusche, Wasser- oder Ölfarben ein. Auf jedem Papier, jedem Karton und sogar auf unseren Möbelstücken hinterließ sie malend ihre Spuren. Sie machte meine Kinderwelt um so vieles bunter, um so vieles schöner und um so vieles fröhlicher. Über alles, das sie malte, konnte sie wunderbare Geschichten erzählen.

Geschichten, die bis zum heutigen Tag nur ich und einige wenige Auserwählte hörten. Gemeinsam spielten wir Stücke aus der Zauberflöte auf dem alten Stutzflügel, auf dem auch sie selbst als Mädchen Klavierspielen gelernt hatte. Es waren selbst im tiefsten Winter warme, sonnige Tage. Heute hängen ihre Zeichnungen in keiner Galerie und keinem Museum, sondern an meinen Wänden, oder liegen, verschnürt und wie für die Ewigkeit aufgebahrt, wie viele andere alte Erinnerungen auf dem Dachboden meines Elternhauses. Unter dem Namen meiner Mutter findet sich kein Wikipedia-Eintrag und so ist die Nachricht, dass vor so vielen Jahren eine wundervolle Frau, liebevolle Mutter und heimliche Künstlerin starb, nicht als Trauernachricht um die Welt gegangen, sondern hat nur das Fundament meines damaligen Zuhauses zum Einsturz gebracht. An ihrem Todestag ging für mich die Sonne unter und meine Welt versank in kalter Dunkelheit.

Zehn Jahre lang, in denen ich vom Kind zum Teenager und alsbald zur jungen Erwachsenen heranwuchs, berührte kein wärmender Sonnenstrahl mein Herz. Zuerst hörte ich auf Klavier zu spielen. Zu sehr war dieses Instrument mit ihr verbunden. Bald malte ich nicht mehr und keine der Geschichten, die schon immer wie von selbst in meinem Kopf entstanden, fand ihren Weg mehr nach draußen. Ich hielt den Atem an und meine Welt stand still. Es war, als ob in der Dunkelheit kein Platz für irgendetwas war, was mir oder ihr Freude bereitet hätte. Denn, und daran waren sich alle einig, ich ähnelte ihr sehr. Innerlich wie äußerlich. An ihrem zehnten Todestag war ich 22 Jahre alt. Ich atmete aus und die Sonne explodierte auf meinem Horizont. Ich begrub alle Erinnerungen an früher und machte jede Nacht zum Tag. Ich hatte die Schnauze voll von zehn Jahren Kältestarre und Traurigkeit und feierte ohne Unterlass. Niemand tanzte länger auf den Partys, niemand lachte lauter, niemand hatte mehr Spaß. Das war der Eindruck, den ich unbedingt hinterlassen wollte und es gelang mir meist richtig gut. Ich war der Sonnenschein in Person. Kaum jemand sah den echten Menschen hinter dieser zu einem ewigen Grinsen verzerrten Maske, denn auch mir waren meine wahren Gefühle fremd geworden. 15 weitere Jahre vergingen, dann holte mich die Dunkelheit mit aller Macht ein.

Diesmal wusste ich, dass mir kein Verdrängen, keine Maske, kein Panzer ums Herz mehr helfen konnten. Zum ersten Mal in meinem Leben musste ich mich meiner Vergangenheit stellen. Diesmal war ich allerdings erwachsen und hatte Menschen an meiner Seite, die mir dabei halfen. Schritt für Schritt fand ich zurück zu mir und lernte meine wahren Gefühle kennen. Es hat einige Jahre gedauert, bis ich erkannt hatte, wie wichtig es ist, sich mit der eigenen Vergangenheit auszusöhnen, um eine lebenswerte Gegenwart und Zukunft zu gestalten. Schließlich hatte mich diese Arbeit so fasziniert, dass ich selbst eine dreijährige Ausbildung in der Energiearbeit absolviert habe. Wenn ich heute male, schreibe, filme oder Menschen als energetischer Coach begleite, dann mache ich diese Welt ein bisschen bunter, ein bisschen schöner, ein bisschen fröhlicher. Ähnlich wie meine Mutter Hedwig und doch anders, denn ich teile meine Gaben mit der Welt. Ihre Sonne ist zu meiner geworden. Ich mag die Frau, die mich mit klarem, aber sanftem Blick aus meinem Fenster ansieht. Draußen ist es dunkel und kalt. Meine Sonne strahlt hell und warm.

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