Ich habe diese Geschichte geträumt. Einiges ist wahr. Alles ist wahrhaftig.

Die drei Kleider, die mir meine Mutter vererbte, hatte meine Großmutter für sich selbst genäht. Mit jedem Nadelstich webte sie eine ihrer Vorstellungen, wie sie als Frau durchs Leben gehen wollte, in den prachtvollen roten, blauen und weißen Stoff. Ihr Leben sollte voller Liebe, voller Hoffnung und voller Unschuld sein. Deshalb die Farbwahl. Die Kleider verliehen ihr eine ganz besondere Anmut und hoben sie sehr von den Frauen ringsum ab. Es waren Sonntagskleider, Kleider, die man nur zu ganz besonderen Anlass trug, wie eben dem sonntäglichen Kirchengang.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich sie als Mädchen sonntags in die Kirche begleitete. Sie und ich wir trugen feine Handschuhe. Ihre erschienen mir kostbar wie Seide, meine waren einfacher aus Baumwolle, aber blitzweiß. Dazu war ich mit goldblonden zu Locken gedrehten Haaren, einem süßen Kleidchen und Schuhen ausgestattet, die nicht dazu taugten, um mit ihnen auf Bäume zu klettern. Nie werde ich vergessen, wie mich der alte Pfarrer in unserer Gemeinde zurechtwies, als ich vergaß zur Kommunion meine weißen Handschuhe auszuziehen. Dabei durfte man den Leib Christi doch nur mit bloßen Händen empfangen. Jedes seiner Worte ein Nadelstich in meinem kleinen Herz.

Oma jedoch genoss ihren wöchentlichen Auftritt als feine Dame sehr. Sie verwandelte sich jeden Sonntag in eine Frau, die mir ganz anders erschien, als die quicklebendige und lustige Oma im Schürzenkleid, die uns stets Märchen erzählte, Lieder vorsang und uns beim Schwimmen im nahen Seitenarm der Donau wachsam im Auge behielt. Ihre drei Kleider hatte sie mittlerweile meiner Mama vermacht, die auch ihrem Auftritt etwas ganz Besonderes verliehen. Elegant, damenhaft und distanziert, erschien sie mir jedes Mal, wenn sie eines dieser Kleider trug. Der Stolz blitzte aus Mutters und aus Großmutters Augen, wenn sie in diesen zu Stoff gewordenen Vorstellungen unterwegs war.

Und eines Tages hielt Mama diese Kleider im Arm und übergab sie mir. Ein Geschenk, an dem ich lange schwer trug. Ich stülpte mir Mutters Kleider über und spürte mit jedem Schritt, wie mir das Atmen schwerer wurde und die Lebendigkeit aus meinen Gliedern floss, bis ich ein würdevolles Schritttempo erreicht hatte, mit dem es mir möglich war, in diesen Kleidern durchs Leben zu gehen. Es fühlte sich nicht mehr nach mir an, aber bestimmt machte es Mama sehr stolz mich so zu sehen.

Frühling, Sommer, Herbst und Winter wechselten sich ab und mit den Jahreszeiten verflogen die Jahre. Längst waren sowohl Großmutter als auch Mama gestorben und ich machte mich wieder einmal zurecht für einen Ausflug. Anstatt jedoch das rote Kleid zu wählen, das mir mittlerweile am liebsten war, zog ich mich aus, bis nur noch ich über war. Ich war nackt und doch nicht nackt, weil ich am ganzen Körper wunderschöne Tattoos trug. Jede prägende Erinnerung, die mich seit meiner Geburt geformt hatte, war in ein kunstvolles Bild geflossen, das nun meinen Körper bedeckte. Und ich ging nackt in den Wald, der schon vor vielen Jahren zu meiner Kirche geworden war. Ohne Angst davor so nackt gesehen zu werden. Denn alles an mir war genau richtig und ich war nicht mehr schutzlos, sondern ganz in meiner Kraft.

Am Heimweg spürte ich meine Mutter und meine Großmutter an meiner Seite. Auch sie waren nackt. Auch sie trugen Tattoos. Wir waren wieder eins geworden. Indem ich alle Vorstellungen davon losgelassen hatte, wie ich als Frau sein sollte, hatte ich nicht nur mich, sondern auch meine weiblichen Ahnen befreit. Wir schritten barfuß über die Erde, aber es fühlte sich an als würden wir tanzen. Nackt, lebendig und wahrhaftig. Endlich ich.

 

Inspiration for free

Möchtest du regelmäßig Impulse für ein mutiges Leben aus vollem Herzen? Dann melde dich jetzt zu meinem kostenlosen Newsletter an.

Danke für deine Anmeldung. Jetzt brauchst du nur mehr den Link in deinem Email-Postfach bestätigen.

Pin It on Pinterest